Geborgenheit – die Kraft der inneren Zuversicht
Geborgenheit ist ein Wort, das viele Sehnsüchte zusammenfasst. Meist wird es definiert als ein Gefühl der Sicherheit, der Wärme und des Wohlbefindens. Aber auch Vertrauen, Liebe, Akzeptanz, Verständnis, Nähe und Zuneigung gehören dazu. Wir suchen – manchmal zeitlebens – eine heile Welt, in der wir uns sicher fühlen. Doch wo können wir sie finden? Und: Können wir selbst etwas dazu beitragen, dass sich dieses Lebensgefühl einstellt? Was helfen kann auf dem Weg, sich geborgen zu fühlen? Im Alltag, aber auch und besonders bei schwerer Krankheit und im Alter?
Der Mensch ist ein Geborgenheitswesen
Der Psychologieprofessor Hans Mogel von der Universität Passau sieht in der Suche nach Geborgenheit den zentralen Lebensinhalt jedes Menschen. Mogel meint dazu: Ob wir uns in einer bestimmten Situation – oder grundsätzlich in unserem Leben – eher geborgen fühlen, hänge neben den äußeren, objektiven Umständen auch von unserer inneren Verfassung ab. Das bedeutet, dass wir auf zweierlei Weise mehr Geborgenheit in unser Leben bringen können: Wir können unsere Lebensumstände „geborgenheitsfreundlich“ gestalten und andererseits unsere innere Einstellung zum Leben überdenken. Der Psychotherapeut Ulfilas Meyer beschreibt in seinem Buch „Geborgenheit – unsere Suche nach dem inneren Halt“, wie das gelingen kann. In erster Linie geht es darum, Kontakt aufzunehmen – mit der Umwelt und mit sich selbst.
Aus dem Nest gefallen
Im Bauch der Mutter sind wir sicher und geborgen. Danach wird es ungemütlich. Grelles Licht und ungewohnte Geräusche empfangen meist ein Neugeborenes und entlassen es in eine ungewisse Zukunft. Dieses erste traumatische Erlebnis prägt uns für unser Leben. Deshalb ist es so wichtig, dass ein Kind durch Liebe und Zuwendung der Eltern ein Urvertrauen entwickeln kann, denn damit wächst auch die Fähigkeit zur Selbstliebe. Wer in seiner Kindheit und Jugend wenig Zuwendung, Verlässlichkeit und körperliche Nähe erfahren hat, kommt im Erwachsenenleben schlechter mit sich selbst zurecht.
Sich selbst zu spüren und annehmen zu können, ist auch die Voraussetzung, um Mitgefühl für andere zu empfinden, Freundschaften zu schließen und Partnerschaften lebendig zu halten.
Nähe zu anderen Menschen schaffen
Menschen brauchen Bindungen. Schon Babys zeigen diesen Wunsch durch Weinen, wenn sie sich alleingelassen fühlen. Als Erwachsene schließen wir Freundschaften, gehen Partnerschaften ein und bilden soziale Netzwerke. Je berechenbarer und beständiger diese Beziehungen sind, umso besser können wir auch belastende Situationen ertragen. „In den Augen des anderen sehe ich, dass ich lebe“, sagt der gelähmte Hauptdarsteller im Film „Ziemlich beste Freunde“. Studien belegen: Die Konstruktion „Familie“ hat sich als Erfolgsmodell in der Evolution herausgestellt. Auch in lebensbedrohlichen Situationen ist die Überlebenschance im Familienverband größer. „Wissen kann unmittelbar weitergegeben werden, Zugehörigkeit ist garantiert und Fürsorge programmiert“, so Mogel. Und Forschungen zeigen auch: Wer sozial isoliert ist, trägt ein höheres Risiko, körperlich zu erkranken. Durch Nähe zu anderen finden wir Geborgenheit in der Welt.
Rituale pflegen
Immer am Dienstag ins Fitnessstudio, jeden Freitag Kartenrunde mit Freunden. Und immer am Heiligen Abend treffen sich die Nachbarn am späten Nachmittag zu Turmblasen und Punsch. Egal, welche Rituale wir pflegen, sie bieten Fixpunkte und sind daher verlässlich, denn sie haben eine Vergangenheit (es war schon immer so) und eine Zukunft (es wird wieder so sein). Sie geben unserem Leben Halt, Struktur und Orientierung. Zugleich sind die Routinen ein Ruhespender. Weil sie immer gleich ablaufen, lässt sich nichts beschleunigen oder überspringen wie sonst im Alltag. In Ritualen sind wir authentisch. Wir müssen uns nicht verstellen – wir können so sein, wie wir sind. „Rituale sind gerade für Alleinstehende wichtig“, schreibt Ulfilas Meyer, „um zu klären, ob sie aus irgendeinem Grund alleine leben oder sich für diese Lebensform entschieden haben.“ Da vermitteln Rituale nicht nur das Gefühl, dass ihr Leben einen unantastbaren Wert hat, sondern auch ein Stück Heimat und Geborgenheit.
Heimat erleben
My home is my castle – dieses Sprichwort gilt heute mehr denn je. Dank moderner und immer leistungsfähigerer Flugzeuge kann man heute binnen 24 Stunden nahezu überallhin kommen. Umso mehr brauchen wir indes eine vertraute Umgebung, einen Ort, der Schutz vermittelt, und soziale Einbindung. Früher war die Wohnung oder das Haus vor allem ein Dach über dem Kopf, heute geht es um mehr. Die Möbel werden sorgfältig ausgewählt, der eigene Stil perfektioniert. „Lebst du noch oder wohnst du schon?“, titelte IKEA eine Werbeserie im Fernsehen. Unser Zuhause als Rückzugsort, zum Schutzmantel vor der Welt draußen. Die eigenen vier Wände werden zur Heimat. Dies gilt in besonderem Maße auch für alte Menschen. Peter Scheu beschreibt in einem Referat im Fachbereich Gesundheitswesen der Evangelischen Fachschule Hannover die Bedeutung der Wohnform im Alter. „Alltag im Alter ist vor allem Wohnalltag, da mit zunehmendem Alter der räumliche Aktionsradius geringer wird, das innerhäusliche Lebensprogramm wird intensiver.“ Er fordert mehr Kreativität in der Entwicklung neuer Wohnformen für alte Menschen, in denen Grundbedürfnisse wie Selbstbestimmtheit, Gemeinschaft, Geselligkeit und Sicherheit berücksichtigt werden. „Dem alten Menschen als selbstbestimmte, selbständige und gleichberechtigte Person kann man nur begegnen, wenn man sich bemüht, ihn und seine Welt kennen und verstehen zu lernen“, so Scheu.
Identität finden
Im alten Griechenland stand am Apollontempel in Delphi: „Gnothi seauton“ – „ Erkenne dich selbst“. Das war also den Menschen schon vor über 2000 Jahren wichtig. Heute gibt es unzählige Bücher, die versuchen, der Persönlichkeit auf die Spur zu kommen. Dem wahren Ich. Weil sich letztendlich jeder Mensch einmal die entscheidende Frage stellt: „Wer bin ich?“ Unsere Identität zu finden ist ein langer und manchmal schwieriger Prozess. Er beginnt schon in der Kindheit. Bis zum dritten Geburtstag können sich Kleinkinder nicht als eigenständige Personen wahrnehmen. Sie reden von sich in der dritten Person. Erst langsam und mit fortschreitender Entwicklung erwacht unser Ich. Im Laufe unseres Lebens sind wir vielen äußeren Einflüssen ausgesetzt. Und vielen Ansprüchen und Erwartungen. Wenn wir all dem Genüge tun wollen, können wir schon einmal aus der Spur geraten auf der Suche nach unserem „Selbst“ und dem Sinn des Lebens. Der Psychotherapeut Ulfilas Meyer rät, sich seiner persönlichen Geschichte bewusst zu werden: „Meine Geschichte ist der Rahmen, in dem ich mich bewege. Dieser gibt meiner Existenz den Sinn und mir das Gefühl, darin geborgen zu sein. Ich gebe meiner Person eine Stimme, die die verschiedenen Tonlagen und Erzählstränge zu einer Biographie, meiner Lebensbeschreibung vereint, mit einem Anfang und mit einem Ende.“
Wenn der Rahmen zerbricht …
Wenn alte Menschen langsam ihr Gedächtnis verlieren und die Erinnerungen immer mehr schwinden, geht damit auch immer mehr die eigene Identität verloren. Wenn sie hilflos immer wieder fragen, was man gerade getan hat, oder innerhalb einer Stunde dreimal das Gleiche erzählen, bekommen wir eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn das Selbstbild, die eigene Wiedererkennbarkeit sich Stück für Stück auflöst. Und in einem Nebel aus Wahrnehmungs- und Erinnerungsbruchstücken verschwindet und deren Sinn und Zweck das Gehirn nicht mehr in einen Zusammenhang bringen kann. Dann können wir ein Stück besser verstehen, warum alte Menschen oft um keinen Preis ihre vertraute Umgebung, die eigenen vier Wände verlassen wollen, wenn das Leben dort auch noch so beschwerlich ist. Dort finden sie noch ein wenig die Geborgenheit, die sie in sich selbst nicht mehr finden können.
… und die Zukunft ungewiss ist
Was aber bedeutet es, wenn anstatt der Vergangenheit plötzlich die Zukunft weg ist? Der deutsche Schauspieler Samuel Koch verunglückte
23-jährig 2010 in der Sendung „Wetten, dass ..?“ schwer, als er mit speziellen Sprungstiefeln über ein fahrendes Auto sprang. Der passionierte Sportler, der seit seinem 6. Lebensjahr Geräteturner war und auch sonst eine Vorliebe für Risikosportarten hatte, war plötzlich vollkommen bewegungsunfähig. Wochenlang lag er nach etlichen Operationen im künstlichen Koma. Als er erwachte, musste er wieder lernen zu atmen, durfte nicht einmal den Kopf bewegen. Nach einer monatelangen Reha in der Schweiz begann er, sich Stück für Stück ins Leben zurückzukämpfen. Aber es ist ein völlig anderes Leben, als er es bis zu seinem Unfall zu führen gewohnt war. Zunächst vom Hals abwärts gelähmt, sitzt er heute noch im Rollstuhl. Inzwischen kann er jedoch mithilfe seiner Schultermuskulatur sogar wieder Auto fahren, arbeitet als Schauspieler und hat zwei Bücher geschrieben. Aufgeben, so sagt er immer wieder in Interviews, war nie eine Option für ihn. Ulfilas Meyer meint dazu, dass solche extremen Erfahrungen oft zu einem besonderen Reifeprozess führen. „Jene Menschen sind dem Menschsein viel mehr ausgesetzt und müssen sich sich selbst stellen. Sie können schlechter vor sich wegrennen. Sie müssen lernen, sich auszuhalten. Mögen sie unsere Lehrmeister sein auf dem Weg, sich in sich selbst geborgen zu fühlen.“
Gaby Valentinitsch
Buchtipps:
Ulfilas Meyer: Geborgenheit. Unsere Suche nach dem inneren Halt. Primus, Frankfurt 2013
Hans Mogel: Geborgenheit. Psychologie eines Lebensgefühls. Springer, Heidelberg 1995
Samuel Koch: Zwei Leben. Adeo, Asslar 2012