„DASEIN“ für die Angehörigen
Ingrid Reiter, ehrenamtliche Hospizmitarbeiterin im Murtal mit der Tochter von Frau W.
Frau W. war 79 Jahre alt. Sie litt an ALS, das ist eine Krankheit, bei der es zur fortschreitenden Lähmung der Muskulatur kommt. Fr. W. wohnte etwas abgeschieden mit ihren beiden Hunden, die ihr Ein und Alles waren. Außer mit der Tochter, die in Graz verheiratet ist, hatte sie kaum Kontakt mit anderen Menschen. Sie war es gewohnt mit allen Problemen allein fertig zu werden und wollte keine Hilfe von anderen Menschen annehmen. Als sie über ihre Krankheit aufgeklärt wurde, wollte sie nur sofort sterben. Die Tochter war bereit bei ihr zu bleiben und sie zu pflegen. Aber Fr. W. lehnte jede Hilfe kategorisch ab – auch die des mobilen Palliativteams. Mich lehnte sie zunächst ebenfalls total ab.
Rascher Krankheitsverlauf
Erschwerend war, dass die Krankheit einen sehr raschen Verlauf nahm. Bei meinem ersten Besuch konnte sie schon nicht mehr sprechen, so dass eine Kommunikation kaum möglich war. Meine Hauptaufgabe war in erster Linie der Tochter beizustehen. Diese stand der Situation anfangs hilflos gegenüber und war für meine Unterstützung dankbar. Nachdem sich der Zustand von Fr. W. verschlechterte wurde sie auf der Palliativstation aufgenommen. Da es ihr größter Wunsch war zu Hause sterben zu können und bei ihren Hunden zu sein, war sie schließlich damit einverstanden, eine 24 Stundenpflege anzunehmen. Die rumänische Pflegerin wurde dann auf der Station eingeschult und sie war Fr. W. auch sympathisch. Nach einiger Zeit war sie auch mir gegenüber nicht mehr so ablehnend, vor allem als ich ihr erklärte, dass ich in erster Linie für die Tochter da sein würde.
Wieder daheim
Als Fr. W. nach Hause kam und ihre Hunde sie außer sich vor Freude begrüßten, lächelte sie sogar und nahm von diesem Zeitpunkt auch jede Hilfe an. Ihr Zustand verschlechterte sich sehr rasch, bald konnte sie nicht mehr schlucken und hatte auch Atemprobleme. Meine Aufgabe war „Da sein“. Ich war die Stütze an der sich die Tochter anlehnen konnte. Sie wusste, dass sie mich jederzeit anrufen kann. Ich versuchte sie auf das baldige Ableben ihrer Mutter vorzubereiten, aber obwohl sie wusste dass die Zeit sehr bald kommen würde schob sie diesen Gedanken immer von sich weg.
Nur 12 Stunden
Als mich die Tochter eines Tages zu Mittag anrief und sagte, dass es der Mutter sehr schlecht geht, fuhr ich sofort hin und sah, dass Fr. W. im Sterben lag, sie war kaum mehr ansprechbar. Ich sagte der Tochter, dass jetzt die Zeit zum Abschiednehmen gekommen sei. Sie nickte nur, aber ich merkte, dass die Wahrheit noch nicht angekommen war. Als ich sie fragte, ob sie sich schon überlegt hat, was sie der Mutter anziehen will, sah sie mich zuerst verständnislos an – um dann plötzlich zu verstehen.
Da in der Apotheke noch etwas zu besorgen war, sagte ich, dass ich das mit der Pflegerin erledigen würde. Als ich zur Tür ging, kam sie her und sagte ganz leise: „Lasst euch Zeit“. Da wusste ich, dass sie von der Mutter Abschied nehmen wird. Als wir wiederkamen war sie sehr gefasst und da der Gatte auch schon gekommen war, verabschiedete ich mich. Um 21 Uhr rief sie noch einmal an und sagte mir, dass sie sich zur Mutter gelegt habe und auch die Hunde im Bett liegen. Um 1 Uhr rief sie dann an, und sagte, dass die Mutter soeben verstorben sei.
Für mich war es sehr berührend zu sehen, was in 12 Stunden in einem Menschen vorgeht. Vom Nichtwahrhaben wollen, bis zum Akzeptieren und Gehenlassen der geliebten Mutter.
Die Tochter war sehr froh, dass sie der Mutter den Wunsch, zu Hause zu sterben, erfüllt hatte. Aber sie meinte, dass sie es ohne mobiles Palliativteam und Hospizbegleitung nicht geschafft hätte.
Ingrid Reiter, Murtal