Ihr Lebensmotto war Optimismus
Alles an Gerda S. war außergewöhnlich. Geboren 1923, war ihre Jugend geprägt von Krieg, Entbehrung und Vertreibung. Nach Kriegsende war sie eine der ersten Polizistinnen in Berlin. Als sie ihrem zweiten Ehemann nach Graz folgte, war sie nach kurzer Zeit lebhafter Mittelpunkt einer Berliner Community. Ihre Disziplin war ebenso legendär wie ihre unerschöpfliche Energie, trotz ihres hohen Alters und ihrer schweren Krankheit. Christine Vejda, Leiterin des Hospizteams „Graz ambulant“, durfte während dreier Jahre erleben, wie interessant und bereichernd die Begleitung eines alten Menschen sein kann.
Gerda S. Mit ihrem Bruder Günter ©Hospizverein
Erstes Kennenlernen
„Als ich Gerda S. das erste Mal besuchte war sie 92, hatte gegen mehrere Krankheiten gleichzeitig zu kämpfen und war, was die Ärzte als ‚austherapiert‘ bezeichnen“, erzählt Christine Vejda. „Von der Idee einer Hospizbegleitung auf Anraten des Palliativteams war sie anfangs gar nicht begeistert. Doch wir hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander und sind in den drei Jahren richtig zusammengewachsen. Wir haben über Gott und die Welt gesprochen, Ausflüge gemacht oder Freunde besucht. Je nachdem, was ihr Gesundheitszustand zugelassen hat“.
Kindheit und Flucht
Gerda S. stammte aus Ostpreußen, dem heutigen Polen. Aufgewachsen in einer Großfamilie mit sechs Geschwistern hatte sie eine behütete Jugend, die der Krieg jäh zerstörte. 1944 starb der Vater und auch ein Bruder fiel in diesem Jahr. Im Januar 1945 wurde die Mutter mit den Kindern bei eisiger Kälte aus der Heimat vertrieben, während Gerda S. Kriegshilfsdienst bei der Marine geleistet hat. Der damals zweijährige Bruder war an Kinderlähmung erkrankt, hat die Flucht nach Berlin trotzdem überstanden und lebt heute noch.
Von Berlin nach Graz
Nach Kriegsende und englischer Gefangenschaft wartete ein Leben im besetzten Berlin. Gerda S. erlebte als Polizistin in Westberlin hautnah wie durch den Mauerbau Familien auseinandergerissen und Freunde getrennt wurden. Im Urlaub in Kärnten lernte sie ihren zweiten Ehemann kennen und folgte ihm nach Graz. „Hier hat sie sich endlich frei gefühlt, es gab keine Grenzen und Schikanen“, berichtet Christine Vejda. „Durch ihre Kontaktfreudigkeit war sie schnell Mittelpunkt einer Gruppe von Berlinerinnen, die alle der Liebe wegen nach Graz gekommen waren. Sie war eine begnadete Netzwerkerin, belesen und vielseitig interessiert, liebevoll und warmherzig.“
Ein letztes großes Fest
Gerda S. hatte keine Kinder, bekam aber regelmäßig Besuch von ihren zahlreichen Nichten und Neffen aus Deutschland. Sie alle wollte sie zu ihrem 95. Geburtstag noch einmal um sich haben bei einem großen Fest, zu dem sie auch Christine Vejda und deren Mann eingeladen hat. „Wir haben das zusammen geplant“, erinnert sich Vejda. „Wir haben gemeinsam den Ort ausgesucht – Schloss Seggau – und sind mehrmals dorthin gefahren, um alles zu organisieren. Gerda S. hat fast alles allein gemacht, ich war ihr nur behilflich, wenn ein Auto oder ein Computer gebraucht wurden. Es war ein wunderbares Fest bis zwei Uhr früh und Gerda S. war unter den Letzten, die zu Bett gegangen sind. Ich glaube, sie hat jeden Moment genossen.“
Der Abschied
Von da an verlor Gerda S. allmählich an Kraft. Krankenhausaufenthalte und eine schwere Operation schwächten sie zusehends. Im August 2018 ging ihr Lebenswille langsam zu Ende, ihre Verwandten haben sie in den letzten Wochen liebevoll und aufopfernd begleitet. Dankbar erinnert sich Vejda an die gemeinsame Zeit: „Für mich war es eine lehrreiche und beglückende Begleitung. Gerda S. war bis zuletzt optimistisch und sehr pragmatisch. Ihr Motto war immer: ‚Nicht zu viel über mögliche Probleme nachdenken. Wenn es da ist, dann findet sich auch eine Lösung. “Ihre Disziplin hat ihr über viele Hindernisse im Leben hinweggeholfen. Ich habe viel von ihr gelernt.“