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„Ich habe ein schönes Leben gehabt“

Auf die Palliativstation kommen unheilbar erkrankte Menschen, die in ihrer Krankheit behandelt werden und meist nach einiger Zeit in gebessertem Zustand wieder entlassen werden. Manchmal begegnet man aber auch Sterbenden. Bei regelmäßigen Besuchen macht man sehr unterschiedliche Erfahrungen. Immer sind sie berührend, oft sehr intensiv, manchmal auch belastend. Dass man aber selbst beruhigt und getröstet von einem solchen Besuch zurückkehrt, kommt selten vor!

Frau Emma lächelt, als ich eintrete und mich vorstelle. Sie freut sich über meinen Besuch und beginnt sofort zu erzählen: „Ich kämpfe jetzt ein Jahr lang gegen meine Erkrankung! Aber jetzt mag ich nicht mehr kämpfen, ich bin bereit zu sterben. Ich habe ein schönes Leben gehabt. Auch meine Familie ist damit einverstanden, dass ich gehen möchte, das ist mir sehr wichtig!“ Sie erzählt aus ihrem Leben, dass sie jahrelang eine Firmgruppe geleitet hat, von ihren Kindern und auch mit großer Begeisterung von ihren Enkelkindern. Schließlich fragt sie mich, ob ich auch Kinder und Enkelkinder hätte. Darauf erzähle ich von Tochter und Sohn, einer 19jährigen Enkelin, die Medizin studiert, einem 16jährigen, der eine Behinderung hat, und einer 10jährigen, die in die Volksschule geht. Natürlich ist der Bub unser Sorgenkind.

Ich erwähne, dass er die Sonderschule besucht und wir uns fragen, ob und wie er jemals ein selbständiges Leben wird führen können. Als Frau Emma hört, dass er jetzt bei „Jugend am Werk“ beschäftigt ist, wird sie sehr lebhaft. „Das ist sehr gut, mein Sohn war auch dort und ist jetzt in seinem Beruf ein tüchtiger Mann. Sie werden sehen, auch für Ihren Enkel wird sich alles zum Guten wenden!“ versichert sie mir. „Eigentlich wäre ich für Sie hier, liebe Frau Emma“, antworte ich, „und jetzt unterstützen Sie mich und trösten mich so wunderbar! Ein großes Danke dafür!“

Ein Segen für die Enkelkinder
Etwas später fragt Frau Emma, ob sie meine Hand halten dürfe. Ich schiebe meine rechte Hand unter ihre, sie drückt sie sehr fest. Da ich am Nachmittag noch einen Termin habe, wird es Zeit, mich zu verabschieden. Frau Emma nimmt meine Hand und zeichnet auf die Innenfläche drei kleine Kreuze – das soll meinen Enkelkindern Segen bringen. Dann zeichnet sie ein großes Kreuz über meine Handfläche: „Und das ist für Sie, Gottes Segen und Vergelt’s Gott für Ihren Besuch!“

Der letzte Besuch
Auf der Heimfahrt bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Einer sterbenden Frau zu sagen, man müsse jetzt gehen, ist schlimm. In dieser Situation gibt es eigentlich nichts Wichtigeres als da zu bleiben. So beschließe ich am nächsten Vormittag, mich bei der Palliativstation zu erkundigen, ob ich wieder kommen kann oder ob Angehörige da seien. Ich bekomme das Okay, die Angehörigen sind einverstanden. Zu meiner Überraschung sitzt eine Tochter am Bett der nun sichtlich vom Sterbeprozess gezeichneten Frau. Sie berichtet, dass sie von meinem Besuch wisse, ihre Mutter habe ihr vieles erzählt. Ich bleibe zweieinhalb Stunden, sage Frau Emma, wie dankbar ich ihr bin. Mit der Tochter ergeben sich ebenfalls intensive Gespräche. Frau Emma kann nicht mehr sprechen, aber wir hoffen, dass sie uns hören kann und unsere Anwesenheit ihr gut tut. Am Abend stirbt sie. Später steht in ihrer Parte: „Wir haben dich lieb“.

Elf Monate später erzählt Frau Emmas Tochter:
„Wir waren täglich mehrere Stunden auf der Palliativstation bei unserer Mutti, dafür sind wir dankbar. Für uns alle war es ein Segen, dass sie dort sein konnte. Es war dort nichts Beklemmendes, sondern eine so friedliche Atmosphäre. Unsere Mutti wurde liebevoll und ihren Bedürfnissen entsprechend umsorgt und hat sich geborgen gefühlt. Einen Tag vor ihrem Tod hat sie noch mit allen Angehörigen und Freundinnen telefoniert und sich dabei auch an lustige Begebenheiten erinnert. Jedem Besuch hat sie ein Kreuzzeichen gemacht. Wir haben das Gefühl, dieser Segen strahlt in unsere Familie weiter, auch auf die Enkel und Urenkel, die erst nach ihrem Tod auf die Welt gekommen sind.
Am letzten Tag konnten wir uns alle in Ruhe von ihr verabschieden. Das war wichtig für uns und hat allen sehr gutgetan.
Ich gehe zwei- bis dreimal in der Woche auf den Friedhof, manchmal allein, manchmal auch mit meinem Mann.“

(Paula Glaser)

„Der palliative Ansatz ist die Antwort auf die moderne Medizin. Wir müssen den Schwerpunkt auf das Sinnvolle und nicht nur auf das Machbare legen.“
Dr. med. G. D. Borasio, Palliativmediziner