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„Ich brauche nichts anderes als drei Schachteln Prosecco“

Dann sitzt man da und denkt sich: Wie lässt sich das bitte in Worte fassen? Eine Frau wie Hildegard Kirschner beschreiben? Purer Sonnenschein drängt sich da immer wieder ins Bild. Ja, diese Frau mit ihren 94 Jahren, strahlt, scheint, leuchtet. Und das hat nicht nur mit ihrem dottergelben Mantel zu tun, den sie so sehr liebt und mit dem sie erwartungsvoll auf ihrem Bett gesessen hat – an diesem Dienstag im Mai.

Die Beine kess übereinandergeschlagen, der ganze Körper auf Aktion ausgerichtet – ein hübsches Kleid, das sie sich einmal selbst genäht hat. Dienstag ist Hospiztag. Da kommt Begleiterin Helena. Da werden Bücher ausgetauscht – heute hat Helena „Ein Engel für jeden Tag“ von Anselm Grün dabei; handsigniert. Am Nachttisch stapeln sich Bücher – viele davon auf Französisch. „Am Donnerstag kommt immer meine Französischlehrerin. Bis dahin habe ich noch Hausübungen zu machen – Grammatik. Ich muss noch deklinieren üben“, sprudelt es aus der 94-Jährigen hervor. „Französisch lerne ich seit meinem 9. Lebensjahr“, erzählt sie. Und: „Da war ich noch in der Volksschule in Rumänien; ich bin ja in Czernowitz geboren. In der Schule hatte ich Deutsch und Englisch – Französisch lernte ich im Privatunterricht. Eine gute Ausbildung war meinen Eltern wichtig.“ Diese wurden mit den beiden Kindern im Rahmen der Umsiedelung der Deutschen aus der Bukowina in ein so genanntes Umsiedelungslager in Schlesien gebracht. Kirschners Vater ist dort mit nur 44 Jahren an einem Herzschlag verstorben. Die Mutter ging mit Tochter und Sohn nach Graz zu Verwandten und begann dort in der Landesregierung als Beamtin zu arbeiten. Hildegard machte 1950 die Matura, arbeitete erst bei einer Kreditfirma, danach bei einer Sozialversicherung, heiratete und bekam eine Tochter. Im Jahr 1958 ist sie in jenes Haus in der Grazer Vorstadt gezogen, das sie heute noch bewohnt.

„Wo sind eigentlich die letzten 90 Jahre hin?“, lacht die quirlige Dame und schaut immer wieder ihre Hospizbegleiterin an, als würde sie fragen: „Passt das so? Mache ich eh alles richtig?“ Helena lächelt sie bestätigend an, nimmt ihre Hand, drückt sie. Frau Kirschner greift nach einem Zettel, der auf ihrem Nachttisch liegt – dicht beschrieben, von Hand – von ihr selbst. „Das sind die Fürbitten für meinen Bruder. Der ist vergangene Woche verstorben – an meinem 94. Geburtstag“, sagt sie nüchtern. Knapp 91 sei er geworden, der Theophil. Kürzlich hätten sie noch telefoniert und er hätte sogar noch eine Ausstellung gehabt. Theophil war Maler. „Lesen Sie, ob das so passt!“ Und wie es passt. Auch, dass Theophil jetzt nicht mehr ist. „Es tut mir leid, dass wir uns jetzt nicht mehr unterhalten können. Aber traurig bin ich über seinen Tod nicht. Das ist ein natürlicher Vorgang. Er war alt und jetzt lebt er nicht mehr. So muss man das sehen!“

Hildegard Kirschner mit Hospizbegleiterin Helena

Der eigene Tod beschäftigt Frau Kirschner dennoch sehr; oft spricht sie mit ihrer Hospizbegleiterin darüber. Angst hat sie jedoch keine; nur vor einem qualvollen langen Sterben. „Ich träume jetzt viel von meiner verstorbenen Mutter – das tröstet mich. Und wenn ich nicht schlafen kann – dann dekliniere ich,“ lacht sie plötzlich und erzählt, dass sie allein im Vorjahr sieben Mal im Krankenhaus gewesen sei: „Ich leide an einem schwachen Herzen, habe Probleme mit der Lunge – COPD. Dabei habe ich ein Leben lang nicht geraucht, wenig getrunken und auch wenig gegessen. Ich dachte ja schon, es ist vorbei. Aber mit dem Kastl da geht es jetzt gut.“ Das Kastl ist ein mobiles Sauerstoffgerät, das Frau Kirschner seit einiger Zeit das Atmen zu erleichtern hilft. Sie schaut es an, lacht und meint: „Da muss ich mir aber erst noch die Gebrauchsanweisung gründlich durchlesen.“

Das schicke Kleid hat Hildegard Kirschner selbst genäht.

Helfen lässt sich die betagte Frau übrigens nicht so wirklich gerne: „Die Beine sind zwar schlecht, aber ich komme dennoch die Stiegen runter. Da verlasse ich mich ganz auf mich selber – ich weiß, was ich mir zumuten kann. Ich vertraue nicht gerne auf andere Leute. Höchstens, sie sind sehr gut ausgebildet. Aber sonst gehe ich schon lieber selber.“ Sie blickt Helena an, als würde sie das nächste Thema von ihr ablesen wollen. Und meint dann: „Am Donnerstag fahre ich zum Begräbnis meines Bruders. Er hatte ein Nierenversagen. Aber jetzt ist er von allem erlöst – das ist das Wichtigste.“

Frau Kirschner erzählt dann wieder von der Kindheit, von ihrer Tochter und ihren Enkelkindern. Sie erinnert sich an eine Dampfmaschinenfahrt nach Eibiswald und an eine Zugfahrt mit den Enkerln nach Wien; sie haben Eis und Luftballons gekauft und Vögel gefüttert. Tochter Christine besuche sie jeden Tag, sagt Frau Kirschner, das sei ihr ganz wichtig. Wie überhaupt die Familie – da sei das Verhältnis stets ein außerordentlich gutes gewesen. Sicher auch ein Grund dafür, dass sie mit ihren 94 so rüstig und agil ist. Was sie sonst so fit gehalten hat? Bewegung einmal sicher nicht. Denn: „Sport war absolut nie meine Sache. Ich war zeitlebens eine Stubenhockerin. Schon Spazierengehen war mir zu viel. Ich bin eine Geistige – ich mache Sport mit dem Kopf. Lesen, ja, das macht mir Freude. Und ich habe mich immer sehr viel mit Sprachen beschäftigt. Deutsch ist meine Muttersprache, Französisch meine Lieblingssprache. Einmal war ich sogar ganz allein in Frankreich – in Paris. Das war schön.“

Ein Jungbrunnen könnte auch der Schlaf sein: „Ich schlafe viel und gut. Die Ernährung ist es aber wohl eher nicht“, schmunzelt Frau Kirschner und serviert gleich ihre Essgewohnheiten: „Nicht zu viel, aber immer eine ordentliche Hausmannskost – Gulasch oder gefüllte Paprika, das sind so meine Leibspeisen. Pikant und sauer muss es sein; für Süßes bin ich nicht so. Die Franzosen, die haben eine gute Küche. Ich habe auch mein Leben lang wenig getrunken. Wenngleich ich zu einem Glas Prosecco nicht nein sage. Drum habe ich auch zu meinem Geburtstag gemeint: „Ich brauche nichts, schenkt mir einfach drei Schachteln Prosecco.“

Mit Tochter Christine beim Fotoshooting

Wieder dieser konzentrierte Blick ins Leere, dann zu Hospizbegleiterin Helena und auf den Nachttisch, so als würde sie überlegen: Was könnte ich noch erzählen oder zeigen? Ein plötzlicher Griff zu einem Schreibheft, das Gesicht erstrahlt, Frau Kirschner schmunzelt – wohl im Wissen, was sie da noch parat hat. Und schon legt sie wieder los: „Ach, ja – die Fotos. Die muss ich natürlich noch herzeigen. Die hat ein Fotograf im Studio gemacht. Ich war da 92. Es war eine Idee meiner Tochter. Sie wollte diese Erinnerung. Ich habe ja um die 25 Hüte; habe immer gerne Hüte getragen. Und da ist dann eine Fotostrecke damit entstanden. Das hat mir total gefallen – aber jetzt ist es aus mit so Sachen, ein zweites Mal mache ich das nicht.“ Helena hilft ihr dabei, das Album zu halten; Frau Kirschner blättert, hält inne, schmunzelt, lacht – und ist sichtlich stolz auf dieses einmalige Werk. Eindrucksvolle Bilder einer Grande Dame.

„Und dabei hatte ich schon abgeschlossen; ich dachte mir nicht, dass ich den 94er überleben werde“, sagt sie plötzlich. Und setzt gleich fest entschlossen nach: „Aber jetzt geht es mir wieder gut – und jetzt mache ich weiter so!“ Helena lacht. Sie freut sich; ist voll Bewunderung für diese Frau und ihre Lebenseinstellung.

Hildegard Kirschner greift nach einem Heft: „So, etwas habe ich noch. Die Sprüche. Die habe ich hier über Jahre hineingeschrieben. Die stammen teils noch von meiner Großmutter.“ Sie liest leise, sie lacht, sie holt tief Luft und trägt vor: „Wenn der Teufel alt wird, will er auch Mönch werden!“ Sie schaut auf, prüft die Reaktionen als würde sie fragen wollen: „Verstanden? Kapiert?“ Sie scheint zufrieden zu sein und liest weiter: „Manch schöner Apfel ist innen faul. Lieber von einem Gescheiten eine Ohrfeige, als von einem Dummen einen Kuss. Lieber die kleine Größe als die große Kleinigkeit sein. Dummheit verlass mich nicht, sonst bin ich ganz allein.“ Sie lacht lauthals. Heute! Jetzt, im Alter! „Als Junge war ich ein regelrechter Sauerampfer“, gesteht die Ausnahme-Seniorin dann ein.

Der Humor sei erst im Laufe der Zeit gekommen, als das Schicksal immer wieder seinen Hobel angesetzt hat und sie geläutert wurde. „Aus diesem Extrakt kam dann auch eine gewisse Lebensweisheit“, setzt sie mit eleganter feiner und ruhiger Stimme nach. Die nach den langen eindrucksvollen Erzählungen nun aber doch auch etwas müde wirkt. Die Stille lenkt die Aufmerksamkeit auf eine sanfte Brise, die aus der Küche hereinzieht – unverkennbar: gefüllte Paprika.

 

Hildegard Kirschner ist sechs Monate nach diesem Gespräch verstorben.

Johanna Vucak