„Voila – und plötzlich war ich wieder wach!“
Herzerwärmendes Babygeschrei aus der Geburtenstation. „Babyklappe“ steht dort auch. Der Weg führt jedoch vorbei an diesem Ort, wo Leben beginnt. Hin zu einem, wo Leben in die letzte Phase geht – auf die Palliativstation. Dort ist Elke seit drei Wochen „zuhause“. So fühlt sie sich nämlich, so beschreibt sie ihr momentanes Dasein. „Es ist unglaublich, wie umsorgt ich hier bin, wie umsorgt hier alle werden. Man nimmt sich Zeit, auch zwei oder drei Stunden, wenn es sein muss. Diese Station ist einfach nur super. Da müsste es viel mehr davon geben“, schwärmt die 59-Jährige, während sie, dick in eine Decke gehüllt, vom Balkon hinaus ins Grüne blickt und einen tiefen Zug an ihrer Zigarette nimmt. Sie schweigt kurz, inhaliert und beginnt schließlich zu erzählen: „Ich habe im Vorjahr gemerkt, dass mit meinem Körper irgendetwas nicht passt. Ich habe viel Urin gelassen, es hat unangenehm gerochen. Es wurde zunächst ein Nierenversagen festgestellt. Bald folgte die Diagnose Scheidenkarzinom.“ Chemo- und Strahlentherapie lehnt die selbstbestimmte Frau sofort ab.
Ihre Devise: „Ich vertraue meinem eigenen Immunsystem.“ Die Krankheit schreitet voran, ein Seitenausgang wird Thema. Elke lehnt wieder ab, nimmt auch keine Medikamente und bekommt von den Ärzt*innen bald sehr klar vermittelt: „Es kann heute auf morgen aus sein.“
Zwei schnelle Schnapper an der Zigarette, dann ein tiefer, genussvoller Zug. Elke erzählt von ständigem Durchfall, von einem Pilz, den sie bekommen hat, und dass sie wund geworden sei. Dennoch lächelt die schwerkranke Frau und erklärt: „Ich lebe mit dem Tumor. Er lebt mit mir. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass es anders wäre. Ist das nicht irre? Eine Operation wäre für mich nicht in Frage gekommen. Dann streut der Tumor womöglich. Und ich weiß nicht mehr, wo in meinem Körper er ist. So weiß ich immer, wo er sitzt. Ich rede mit ihm. Rüge ihn, wenn er zu viele Probleme macht – Blähungen oder Bauchweh. Das ist dann, als würde er mir etwas erzählen. Das ist wie Krieg und Frieden da in meinem Bauch.“ Sie richtet sich die Decke zurecht, streckt die Beine in die Luft, schaut sie an und sagt: „Man soll Feinde zu Freunden machen, das ist das Beste, das man tun kann.“ Die Kinder, erzählt sie, hätten ihr natürlich geraten, Chemo- und Strahlentherapie zu machen, aber: „Da sterbe ich lieber mit dem Krebs!“
Es sei vor allem die Angst, den Einfluss und die Kontrolle zu verlieren, die sie die medizinischen Möglichkeiten so vehement verwehren lassen: „Da ist es mir lieber, ich lebe so ach und krach mit ‚ihm‘ – und habe dabei eine recht gute Lebensqualität.“ Eine Rechnung, die nicht ganz aufgeht. Bevor sie auf die Palliativstation gebracht wurde, meinte Elke nämlich bereits, sterben zu müssen: „Ich dachte ich überlebe diese Nacht nicht mehr. Ich hatte davor Tage, wo ich nichts gegessen habe. Schwere Durchfälle. Da spürt man, wie die Kraft weggeht. Ich wog nur noch 37 Kilo, konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Dank der künstlichen Ernährung bin ich jetzt wieder stark genug, um mich hier auf der Station selbstständig bewegen zu können“, erzählt sie ganz offen und mit stoischer Ruhe. Wechselt dann aber abrupt das Thema.
„Seit vielen Jahren male ich. Große Bilder. Auch ein Kinderbuch habe ich schon gemacht. Das war eigentlich nur für meine Tochter gedacht, die damals zum Studium nach Leipzig gegangen ist und anfangs dort noch keine Freunde hatte. Da habe ich diese Geschichte erfunden – und einen Freund, den ich Samuel nannte. Dieses Buch einmal öffentlich zu machen, war nie meine Absicht. Als sich jedoch das mit meiner Krankheit einstellte und mir bewusst wurde, dass mein Leben ein nahes Ablaufdatum hat, habe ich vier Bücher drucken lassen. Ich habe eines meiner Hospizbegleiterin Elisabeth, die für mich da ist, die zuhört, mit der ich über Gott und die Welt reden kann, gezeigt – sie hat es gelesen und war hellauf begeistert. Und sie hat mich dazu motiviert, noch mehr davon drucken zu lassen,“ gibt Elke Einblick in ein bemerkenswertes Projekt, das sie trotz schwerer Krankheit in Angriff genommen hat. Bakthi und Samuel, die beiden Figuren in diesem Kinderbuch, sind für sie nun auch ständige Begleiter und haben eine ganz besondere Bedeutung bekommen: „Ich habe sie quasi auf die Welt gebracht. Aber jeder, der das Buch liest, beseelt die beiden – und so leben sie immer weiter.“
Cover und Innenseite ihres Buches. Alle Texte und Illustrationen sind von Elke Engl.
Die Balkontür öffnet sich, ein junger Arzt kommt an den Tisch und meint: „Es ist jetzt alles geregelt. Sie kommen nächste Woche nach Hause.“ „Ah, das ist sehr gut, dass da jetzt alles unter Dach und Fach ist“, gibt sich Elke motiviert und erzählt: „Ich werde zuhause von der Hauskrankenpflege und dem mobilen Palliativteam betreut – ich brauche ja künstliche Ernährung. Die Kinder wollten mich im Albert Schweitzer Hospiz unterbringen, damit ich in besten Händen bin. Aber dafür bin ich einfach noch zu mobil. Ich möchte meine Kuscheldecke zuhause haben,“ ist Elke voll Zuversicht und Selbstbestimmung. Wenngleich: „Im Tageshospiz bin ich ja schon vor dem Krankenhausaufenthalt einmal in der Woche gewesen. Dort sind die Leute so ausgesprochen nett, dass ich am Anfang dachte, das kann es gar nicht geben, die verarschen mich. Ich wusste nicht, dass es so tolle Leute geben kann; das bin ich gar nicht gewohnt.“
Ihr Leben sei, so sagt sie, nämlich durchaus fordernd gewesen. Ihr Mann hätte sie wegen einer Jüngeren verlassen, zu einer Zeit, als die drei Töchter noch sehr klein waren. Stopp. Griff zur Zigarettenschachtel, eine neue wird angezündet. Förmlich unheimlich wirken die Ruhe und Kraft, allen voran aber die Nüchternheit, die diese Frau ausstrahlt.
„Ich vertraue meinem Körper. Wenn er mich umbringt, bringt er mich um. Wenn mein Körper nicht mehr will, will er nicht mehr. Außerdem habe ich ja immer wieder auch gute Tage!“, sagt sie mit stoischer Gelassenheit. Elke zieht ihr Nachthemd über die Knie hoch, weht damit auf und ab, als würde sie frische Luft in ihren Körper fächern wollen, streicht sich über die makellos glatten Beine.
Dann erzählt sie von Elisabeth und Katharina, ihren Hospizbegleiterinnen: „Sie bedeuten mir tatsächlich sehr viel. Und ihre Begleitung ist mir auch wirklich wichtig. Es ist irre, dass man sterbenskrank sein muss, bevor man so nette Menschen kennenlernt. Dank ihrer Ermutigung kommt jetzt auch die Sache mit meinem Kinderbuch wieder in Schwung. Es hat alles seinen Sinn.“ Sie hält inne. Schweigt kurz. Und meint: „Ich dachte schon so oft: jetzt sterbe ich. Und voila, ich wurde wieder wach.“ Ihre Augen funkeln. Ihr Gesicht strahlt. Und plötzlich schießt es aus der schwerkranken Frau heraus, während sie die Hand auf eine Stelle an ihrem Bauch legt, an der sie den Tumor wähnt: „Geben wir ihm einen Namen? Rudy! Ja, Rudy mit y. So soll er heißen!“.
Es fehlen die Worte. Elke allerdings nicht. „Wissen Sie, was ich nie tue?“, fährt sie fast euphorisch fort: „mich selbst bemitleiden! Ich beobachte meinen Körper, ganz genau sogar. Spüre. Aber ich würde nie Heulkrämpfe bekommen oder mich bemitleiden. Da bin ich hart zu mir. Da spielt sonst nämlich der Kopf verrückt – und man ist gleich in so einer psychischen Nummer drinnen.“ Es fehlen die Worte. Elke allerdings nicht. Sie sagt: „Natürlich habe ich mir mein Leben anders vorgestellt. Ich bin ja erst 59. Aber da gibt es wohl irgendwo einen Pakt – und man wird zu einer gewissen Zeit geholt. Schön, dass mein Leben seine Höhepunkte hatte. Die Höhepunkte waren meine Kinder. Jedes Kind war ein Höhepunkt.“
Die Sonne beginnt sich zu verabschieden, eine leichte Kühle zieht auf. Elke richtet ihre Decke zurecht. Und hält mit starker Stimme fest: „Ich lebe für den Moment. Wenn ich einmal keinen Durchfall habe – Power! Wenn ich kein Bauchweh habe – ein Glück! Ich lerne die kleinen Momente lieben! Ich liebe ja auch schon den Tumor in mir. Ich würde ihn vermissen.“ Es fehlen die Worte. Elke merkt es. Sie lacht: „Wenn der Bauch wieder einmal sehr weh tut, massiere ich ihn übrigens nicht – auch wenn es mir gut täte. Weil massieren will ich den Tumor nun auch wieder nicht!“
Dann seufzt sie ganz tief, streckt sich, als erlebe sie gerade den wohligsten Moment, den man sich vorstellen kann, und meint: „Ich würde mein Leben wieder genauso leben. Ich würde auch den Fritz wieder heiraten.“ Kurze Pause. Dann: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gerade eine große Auszeit genieße. Ich bin immer daheim. Ich gehe nicht mehr arbeiten. Man hat sonst immer so viele Verpflichtungen; die fallen jetzt alle weg. Wir haben ein gutes Krankensystem.“
Wünsche? Kein Wunsch. Das letzte matte Sonnenlicht zaubert kleine Pünktchen auf Elkes Gesicht. Es strahlt. Und dann doch: „Vielleicht ein Backhenderl. Ja, das würde ich jetzt gerne essen.“
Johanna Vucak
Elke Engl ist sechs Monate nach diesem Gespräch verstorben.
Ihr Kinderbuch „Bhakti & Samuel“ kann per Mail an: rebecca.korb@gmx.at um 25 Euro (zzgl. Versandkosten) bestellt werden.