Einmal noch ins Fitnessstudio gehen, das wäre schön!
Es ist einer dieser Tage, an denen es der Winter kurz einmal Frühling sein lässt. Das lockt die Kinder auf den Spielplatz und die Erwachsenen auf die Parkbänke. Wie die ersten Frühlingsboten ranken sie ihre Köpfe der Sonne entgegen. Ein Ball rollt der betagten Dame vor die Füße, sie holt weit aus und kickt ihn mit erstaunlicher Kraft und Präzision zurück. Volltreffer quasi, denn das bunte Leder kullert geradewegs zwischen zwei Latten durch, die die Kinder zu einem breiten Tor aufgestellt hatten. Die Kleinen johlen und applaudieren. Über das Gesicht der Frau zieht sich langsam, aber in voller Breite ein Lächeln.
Nur wenige Schritte vom Park in einer von Sonnenlicht durchfluteten Wohnung und eindrucksvollem Blick auf die Kirche hat Silvia Vogelweider gerade alle Hände voll zu tun, um das Problem mit ihrem Seitenausgang in den Griff zu bekommen. Etwas nervös öffnet sie die Tür, entschuldigt sich für den Bademantel, in dem sie heute immer noch steckt, und für das Telefonat, das sie jetzt unbedingt noch führen muss. Es hätte da ein Malheur gegeben, und sie hätte sich völlig waschen und neu anziehen müssen, und jetzt brauche sie unbedingt noch den Servicemann, der sich das Ganze anschauen muss. Erledigt! Die 84-Jährige erhebt sich schwungvoll vom Schreibtisch und lässt sich auf der Couch nieder. Die Sonne zeichnet helle Kreise auf die gläserne Ablage vor ihr – und lässt sie unaufhörlich tanzen. Frau Vogelweider wischt mit ihrer Hand darüber, als wolle sie sie einfangen. Und beginnt dann nach einem tiefen Seufzer ruhig zu erzählen. Von ihren frühen Krankheiten, von ihrer Colitis ulcerosa, die ihr schon in jungen Jahren Stück für Stück den Darm gekostet hat. Von Schmerzen, Operationen und Komplikationen. Oft sei sie völlig komatös ins Krankenhaus gebracht worden.
Mit ihrem Seitenausgang hat sie jedoch über Jahrzehnte gut gelebt. „Doch vor zwei Jahren, da haben sie irgendeine neue Methode zum Einsatz gebracht, und seither habe ich Probleme“, erzählt die Seniorin, dass sie bis zu ihrem 80. Lebensjahr eigentlich voll fit gewesen sei. Und meint: „Das habe ich vor allem dem Fitnessstudio zu verdanken – ich hatte mein Leben lang kein Kreuzweh oder sonst was. Aber jetzt, seit ich da nicht mehr hingehe, leide ich unter Muskelabbau und auch meine Ausdauer lässt nach.“ Ein Sturz mit Serienrippenbrüchen, ausgelöst durch ihre Polyneuropathie, hatte das Ende ihrer Fitnessstudio-Zeit bedeutet. Denn: „Danach bin ich nur mehr ganz unregelmäßig hingegangen und jetzt merke ich deutlich, wie ich abbaue. Seit ich nicht mehr trainiere, spüre ich förmlich den Verfall. Das deprimiert mich und macht mich traurig. Das ist schiach!“
Sie wendet das Gesicht ab und wandert scheinbar ganz weit weg mit ihren Gedanken. Es vergeht einige gute Weile, bis Silvia Vogelweider dann meint: „Ich habe jetzt auch Angst vor dem Hinfallen. Wenn ich meinen Körper wieder aufbauen könnte, wieder Kraft hätte, wäre das super. Gestern, als mir das Kreuz weh getan hat, habe ich ein bisserl trainiert – dann war es tatsächlich etwas besser. Aber das ist halt kein Vergleich zum Studio. Alle in meinem Alter haben schon gejammert, aber mir hat nichts gefehlt. Weil ich trainiert habe – und weil ich auch immer eine Harte im Nehmen war.“ Dann lacht sie und meint: „Aber jetzt habe ich Viktoria. Viktoria vom Hospizverein. Die hat mir das Krankenhaus vermittelt. Warum ich dort war? Ach, ich war oft im Krankenhaus. Jedenfalls bin ich immer sehr froh, wenn Viktoria kommt. Wir reden viel miteinander, trinken Kaffee, essen Kuchen. Weil zuhause fällt mir ja sonst die Decke auf den Kopf.“
Deshalb versucht sie auch, so viel wie möglich selbst zu machen. Kochen etwa: „Eine Grießnockerlsuppe und drei Palatschinken habe ich mir heute gemacht. Ich kann ja wegen meinem Darm nicht alles essen, muss da immer sehr aufpassen. Deshalb koche ich auch am liebsten selber.“ Und wenn Frau Vogelweider nicht kocht, vertieft sie sich mit großer Leidenschaft in ihre Bücher. „Kafka“, sagt sie, „den liebe ich. Ich habe ja früher schon alles verschlungen – Edgar Allen Poe oder den Max Frisch. Aber mein Mann mochte nicht, dass ich lese. Sieben Jahre habe ich gebraucht, bis ich mich von ihm habe scheiden lassen – dann habe ich auch wieder gelesen.“ Und dann hat die selbstständige Frau, die einer traditionsreichen Schausteller-Familie entstammte und auch zwei Mal ein Studium begonnen hat, den Unterhalt für sich und ihren Sohn ganz alleine verdient. Heute sei er ein Künstler, ihr Sohn.
Mit straff ausgestreckter Hand deutet sie plötzlich auf ihr Bücherregal und erzählt dann von einem Stück, das sie kürzlich im Radio gehört hatte: „Monument eines Unbekannten. Da wurde ein Schauspiel dazu gemacht. Die Musik war tief ergreifend. Tief. Tief. Aber leider ist das halt immer alles spät in der Nacht. Deswegen stehe ich auch so spät auf – mit mir kann man erst ab elf rechnen.
Ja die Kunst, das ist es! Und: „Deshalb freue ich mich ja auch immer so auf Viktoria, die Hospizbegleiterin. Sie geht mit mir manchmal hinaus, spazieren, aber auch in die Oper oder ins Konzert. Wir waren auch schon im Schauspielhaus und haben uns ,Brief an den Vater‘ angesehen. Wir reden viel miteinander. Das tut mir gut. Ich mag junge Leute. Die Alten reden ja immer über Krankheit. Ich interessiere mich für Politik und Wissenschaft. Aber mit wem soll ich darüber reden?“ Dann folgt ein Exkurs über Astrophysik und John Hopkins und wissenschaftliche Fachsimpeleien mit ihrem Enkelsohn, der schließlich in eine ausgedehnte Erzählpause mündet.
„Ich habe meinen Sohn sooooo gern“, schießt es plötzlich aus ihr heraus. Und völlig unvermindert setzt sie nach: „Ist es nicht ein Blödsinn, wenn man mit 84 Jahren noch etwas neu macht? Ich hätte gerne Farbe auf dieser einen Wand – oder eine Tapete.“ Erzählpause. Und dann: „Ich habe bis 72 gearbeitet, dann bin ich in Pension. Da sind gerade so viele fremde Leute zu uns gekommen, und ich habe mir gedacht, da muss man etwas tun. Deshalb habe ich eine Schulung im Verein Zebra gemacht – für die Betreuung von Kindern. Und ich habe einen 17-jährigen Burschen aus Somalia bei mir verköstigt und mit ihm Deutsch gelernt und Mathematik. Ich habe für ihn Bücher organisiert – und er hat bald super Deutsch gesprochen.“
Dann wieder die Wohnung und die neue Farbe auf der Wand. Denn: „Ich will alles so herrichten, als würde ich noch bis 100 leben. Das wird sich wohl nicht ganz ausgehen – aber ausmalen kann man eigentlich doch immer. Und einmal noch ins Fitnessstudio gehen, das wäre auch schön.“