Und plötzlich waren die Sorgen des Lebens aus dem Gesicht gewichen

„Wenn ich einen Menschen auf seiner letzten Reise begleite, weiß ich meistens nicht sehr viel über ihn. Ich stehe wertfrei und offen dem gegenüber, was mich erwartet.
Ich betrete das Zimmer, in dessen Mitte ein Bett steht.
Das Gesicht des Menschen und seine Hände sind das Erste, was ich sehe und wahrnehme, wenn ich einen Menschen begleite. Fast immer lege ich meine Hand auf eine Schulter und die zweite Hand auf die Hand des Menschen, um ihn zu begrüßen und stelle mich mit meinem Namen vor. Manchmal erhasche ich einen Blick, manchmal ein Lächeln und manchmal werde ich scheinbar nicht wahrgenommen.
Ich setze mich neben das Bett und ergreife seine Hände.
Hände haben viel zu erzählen, geben viel über diesen Menschen preis.
Ich halte die Hand dieses Menschen. Eine Hand, deren viele Fältchen und Linien die Geschichte eines langen Lebens erzählen. Dieser Mensch hat wohl viel und schwer gearbeitet. Die Fingerspitzen sind flach, die Hände etwas verformt und nicht sehr beweglich, aber sie sind ganz weich.
Ich blicke in das Gesicht dieses Menschen und kann erkennen, ob er Schmerzen hat, schläft oder sich bereits auf den Weg in ein mir Unbekanntes befindet. Ich frage mich, was hat dieser Mensch erlebt, wie ist es ihm wohl ergangen, hatte er ein schönes Leben mit Freude, mit Zuversicht, mit Liebe, mit Leidenschaft, mit Trauer und mit Zorn? Ich wünsche mir, dass es ein Mensch ist, der ein aktives und schönes Leben hatte, mit allem, was da gekommen ist, und der mit der tiefen Erkenntnis um das Geheimnis des Lebens gelebt hat.
Die Atmung, die anfangs noch regelmäßig, aber flach war, hat sich verändert. Es entstehen lange Atempausen, die auch mir den Atem stocken lassen. Ich gehe zum Fenster und öffne es.
Ein tiefer letzter Atemzug, dann ist Stille.
Es ist spät geworden.
Ich nehme seine Hand und blicke in sein Gesicht, das mir in den letzten Stunden so vertraut geworden war.
Das Gesicht hat sich verändert, es wirkt entspannt. Die Sorgen des Lebens sind aus seinem Gesicht gewichen und es scheint fast so, als würde dieser Mensch lächeln.
Ich drücke seine Hand sehr sanft und behutsam zum Abschied mit großem Respekt und großer Achtung vor dem langen gelebten Leben. Ich bin demütig und dankbar, dass ich diesen Menschen begleiten durfte.“
Sophie Jokesch, Hospizteam Feldbach